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E s gibt viele einzelne Ereignisse,   Jede Narzisse und Tulpe wird wie
        auf die ich voller Freude gewartet   ein alter Freund begrüßt.
        habe. Aber eine immer wieder-       Der Sommer! Kaum kann ich es er-
        kehrende  Vorfreude verspüre ich    warten, wieder in Shorts zu gehen
        im Jahreslauf, im Wechsel der Jah-  und barfuß über die Wiese zu lau-
        reszeiten. Wie gut, dass wir diesen   fen. Die Terrassenmöbel hervorho-
        Jahreslauf mit seinen Fest- und Jah-  len und den Grill abstauben.
        reszeiten haben, der unserem Leben   Sonnenschirme aufstellen und
        Struktur, Sicherheit und Vorfreude   abends  lange  draußen  sitzen  im
        bietet.                             Licht der flackernden Windlichter.
        Das Jahr beginnt. Der Feiertag zu   Lavendelduft und der Geruch einer
        Heilige Drei Könige ist ein schöner   frisch gemähten  Wiese, Kornfel-
        Abschluss für die  Weihnachtszeit.   der und Schmetterlinge. Eis essen,   Hier findet Ihr Felicitas Blog.
        Noch sind die Lichter am Christ-    Erdbeeren pflücken und Kirschen
        baum an, aber man weiß schon,       direkt vom Baum naschen.
        dass es das letzte Mal ist. Der Alltag   Dann verabschiedet sich melancho-  ist es heimeliger auf dem Sofa, als
        droht wieder mit seiner dekorati-   lisch der Sommer mit letzten hei-   wenn  Wind und Schnee um das
        onslosen Routine.                   ßen Tagen und der Herbst hüllt den   Haus sausen. Nie liest es sich besser,
        Danach geht das neue Jahr so rich-  Garten in sein farbenprächtiges Ge-  als mit einem Kissen auf dem Bauch
        tig los. Entscheidungen müssen      wand. Freude über kuschelige Pul-   im Licht einer kleinen Lampe.
        getroffen, Termine koordiniert, Plä-  lover und köstliche Kürbissuppe.   Der Garten liegt im Dornröschen-
        ne und Konzepte erstellt, das Jahr   Lange Spaziergänge durch die bun-  schlaf, Bänke, Rosengitter und
        strukturiert werden. Neue Energie   ten Wälder, in denen schon einzelne   Zäune tragen die Patina von Ver-
        ist da, ähnlich wie im Herbst nach   Blätter begeistert zu Boden segeln.   gangenem. Die Kälte knackt in den
        den Sommerferien. Auch dann         Alles quillt über vor Farben. Am    Zweigen und der Himmel ist voller
        packt mich immer ein Anflug von     Straßenrand Kürbisse in allen Gelb-  blinkender  Sterne,  schön  wie  der
        frischer Tatkraft.                  tönen, Blätter von orange bis rost-  Stern von Bethlehem.
        Aber bald freue ich mich auf den    rot, dunkelbraune Kastanien, oran-  Die Vorbereitungen auf Weihnach-
        Frühling. Die Kälte und Kahlheit    gerote Hagebutten. Einkochen,       ten beginnen. Es wird dekoriert,
        sind vorbei, die Natur wandelt sich   um den Sommer für den Winter      gebacken, verpackt und versteckt.
        und kleidet sich in frische Farben,   festzuhalten. Am Erntedankfest ist   Besondere Mahlzeiten werden zu-
        dicke Knospen veredeln die Zweige   die Kirche prachtvoll geschmückt.   bereitet und an langen Spieleaben-
        und über allem liegt eine Ahnung    Äpfel, Birnen, Quitten, bunte Dra-  den gewonnen oder verloren.
        von Fruchtbarkeit und Neuanfang.    chen am Himmel, alles macht Lust    Das Ende des Jahres lässt uns zu-
        Der erste warme  Tag, die ersten    darauf, zum Pinsel zu greifen und   rückschauen auf Gutes und Schwie-
        Blätter an den Zweigen, die ersten   diese Farbenvielfalt festzuhalten.  riges. Ein befreiendes Gefühl: Wir
        Vögel aus dem Süden. Spaziergänge   Aber bevor der Herbst zu Ende ist,   haben es wieder geschafft.
        ohne den Ballast von Mütze, Hand-   beginnt die Vorfreude auf die Weih-  Der Winter ist der Duft und die
                     schuh  und  Schal.     nachtszeit. Der Winter lässt uns in   heimeligen Gerüche. Der Herbst
                                            Düften schwelgen: Vanille, Speku-   Farben    in   verschwenderischer
                                               latius, Zimt, der besondere Duft   Pracht. Der Sommer ist das Fühlen:
                                               von Orangen und Nelken, Gän-     warme Sonne auf der Haut, Sand
                                              sebraten und Rotkohl, Lebku-      und Muscheln in der Hand, safti-
                                              chen und Glühwein.                ges Gras unter nackten Fußsohlen.
                                              Sogar die Kälte hat ihren ganz ei-  Und der Frühling?
                                             genen Geruch. Alles riecht besser   Der Frühling ist die Liebe, der
                                             im Winter, klarer, sauberer.       Neubeginn, die Auferstehung. Die
                                            Nie ist es schöner, sich in ein war-  Versöhnung mit Menschen und
                                            mes Bett zu kuscheln oder ein hei-  schwierigen Lebensumständen, die
                                            ßes Schaumbad zu nehmen. Nie        Hoffnung.“



 Fotos: H. Wirth
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