Page 63 - Gehaltvoll 1
P. 63
DIE ZEITUNG
Eine nette Geschichte:
Werner May
Seit drei Tagen hatte ich ihn das geöffnete Fenster. Gleich der Kaffee serviert war, er seine
nicht mehr erreicht. Das letzte erschien er und erkannte mich, Hausjacke übergezogen hatte
Mal hatten wir uns am Sonn- verschwand aber sofort. Hey, und, ja, er sogar ein paar Tulpen
tagabend gesprochen, und heute rief ich ihm nach, was das solle? auf den Tisch gestellt hatte.
ist Donnerstag. Gut, da gab es Da bediente er den elektrischen
schon mal Tage, an denen wir Türöffner und ich konnte ein- Am Montagmorgen, als er die
nichts voneinander hören lie- treten. Tageszeitung aufgeschlagen
ßen, aber in der Regel gingen Er begrüßte mich wie immer, habe, habe alles angefangen.
schon täglich ein paar E-mails aber ich sah sofort, dass etwas Er habe plötzlich nicht mehr
hin und her, mal eine Frage, vorgefallen war, unrasiert, Ringe verstanden, warum manche
mal eine Neuigkeit, mal was um die Augen, so kannte ich ihn Themen ganz groß präsentiert
zum Lachen. Ein bis zweimal gar nicht. wurden, mit dicker Schlagzeile,
pro Woche kam es auch zu ei- Was los sei, stürmte ich sofort andere nur eine Notiz wert wa-
nem Telefonat, ja und unser wö- auf ihn ein. ren.
chentlicher Spaziergang. So etwa Komm, wir sollten uns erst ein- Warum, so sei es ihm durch den
war es zwischen zwei Freunden, mal setzen. Kaffee gefällig. Kopf geschossen, solle es wichti-
die es vorzogen, sich als Wegge- Warum er sich nicht melde, ger sein, ob Herr X. zum 2.Mal
fährten zu bezeichnen. nicht reagiere, und sein Aufzug, Präsident von Y-Land geworden
Ich durfte schon über sein was das solle, er sei doch sonst sei, als dass Herr Z. mit dem
Schweigen irritiert sein, denn immer so gepflegt. Fahrrad eine alte Rentnerin um-
auch am Sonntag hatte er von Er werde mir gerne erzählen, ob- gefahren habe, und nach einer
einer normalen Woche gespro- wohl das Projekt noch gar nicht kurzen Fahrerflucht, dann ….
chen und zum Schluss gesagt, abgeschlossen sei.
bis morgen per Mausklick.
Keine Antwort kam, kein Tele- Ich merkte, dass es besser sei,
fon wurde abgenommen. Egal wenn ich erst einmal schwieg
welche Nummer, welche Mail- und ihm Zeit ließe. Und rich-
adresse ich wählte. Im Büro sag- tig, es brauchte noch etwas, bis
te man mir, dass er zu Hause sei,
er habe überraschend Urlaub ge-
nommen. Immerhin etwas.
Jetzt hatte ich mich auf den Weg
gemacht, um persönlich bei ihm
vorbeizuschauen.
Er musste zu Hause sein, war das
erste, was ich feststellen konnte,
denn als ich um die Ecke bog zu
seinem Haus, sah ich, wie er ge-
rade ein Fenster öffnete.
Ich klingelte, einmal, zweimal,
nichts geschah. Ich rüttelte an
der Tür. Nichts.
Was sollte das? Er war doch da.
Klingelsturm. Nichts. Da riss
Foto: H. Wirth ich von der nahen Hecke ein
paar Äste und warf diese durch
63